„Forderungen an die Digitalisierung der Streitkräfte – Lehren aus aktuellen Konflikten“
Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung, zu den Industry Days der BWI.
Mein Name ist Kevin Leiser und ich vertrete die SPD-Fraktion im Verteidigungsausschuss sowie im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. In der Arbeitsgruppe der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD bin ich für die Themen Weltraum, Cyber- und Informationsraum, Digitalisierung und Elektronischer Kampf und verantwortlich. Deshalb habe ich mich auch sehr gefreut, als ich für das Thema „Forderungen an die Digitalisierung der Streitkräfte – Lehren aus aktuellen Konflikten“ angefragt wurde.
Das Thema enthält drei Bestandteile:
a) Streitkräfte
b) Aktuelle Konflikte
c) Forderungen an die Digitalisierung
Anhand dieser drei Bestandteile möchte ich den Rahmen meiner Rede abstecken.
a) Streitkräfte
Wozu benötigt Deutschland Streitkräfte? In Art. 87a GG heißt es: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ So wichtig das Engagement unserer Soldatinnen und Soldaten während der Corona-Pandemie z.B. in Impfzentren, im Ahrtal oder bei der Bekämpfung von Waldbränden war und ist, die Hauptaufgabe unserer Bundeswehr besteht in der Verteidigung der BRD und unserer Verbündeten.
Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und vor allem seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine kommt der Verteidigung unseres Landes und unserer Verbündeten wieder eine
zentrale Bedeutung zu. Wir müssen uns wirkungsvoll z.B. vor Russland schützen und verteidigen können.
b) Konflikte
Ich möchte neben dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch auf ein Beispiel aus dem Irakkrieg 2003 eingehen. Außerdem gehe ich auf die bestehenden hybriden Bedrohungen ein. Als BRD und als NATO befinden wir uns derzeit nicht im Krieg. Wir befinden uns aber auch nicht mehr ganz im Frieden. Denn wir sind hybriden Bedrohungen wie Cyberangriffen, Desinformation, Sabotage und Spionage ausgesetzt. Diese hybriden Bedrohungen haben zum Ziel, dass sich der Angreifer strategische Vorteile erarbeitet. Diese können beispielsweise darin bestehen, eine Gesellschaft zu destabilisieren. Sie können aber auch darin bestehen, einen technologischen Vorsprung zu erzielen.
c) Forderungen an die Digitalisierung
Ausgehend von dieser Aufgabenstellung für unsere Streitkräfte – der Verteidigung – und für die dargelegten Konflikte – Russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, hybriden Bedrohungen, Irakkrieg 2003 – möchte ich im Folgenden die Forderungen an die Digitalisierung ableiten.
John Arquilla ist einer der Pioniere des Cyber Warfare, also der durch die Dimension Cyber unterstützte Kriegsführung. In seinem Buch „Bitskrieg“ beschreibt er ein Gedankenexperiment:
Stellen Sie sich eine Partie Schach mit zwei Parteien „Schwarz“ und „Weiß“ vor: Schachbrett, 16 schwarze Figuren, 16 weiße Figuren, 32 schwarze Felder, 32 weiße Felder – soweit so gut.
Allerdings haben wir in diesem Gedankenexperiment wesentliche Unterschiede zwischen „Schwarz“ und „Weiß“. Während „Schwarz“ nur die eigenen Figuren sieht, sieht „Weiß“ alle Figuren auf dem Feld.
- Wie viele Züge benötigt „Weiß“, um zu gewinnen?
- Wie viele Figuren benötigt „Weiß“ mindestens, um zu gewinnen? Kann „Weiß“ auf Figuren verzichten?
- Kann „Schwarz“ überhaupt gewinnen?
Aus diesem Gedankenexperiment lassen sich zwei Dinge ableiten:
i) Lagebilder und Informationen: Unsere Streitkräfte benötigen einen Informationsvorsprung. Wir brauchen gute Lagebilder. Denn aus einer Informationsüberlegenheit kann eine – potenziell uneinholbare – Wirkungsüberlegenheit resultieren.
ii) Führung: Dafür benötigen unsere Streitkräfte sichere, verlässliche und schnelle Kommunikations- und Führungsmittel. Denn Lage- und Befehlsinformationen müssen sicher, verlässlich und schnell kommuniziert werden können.
Dabei sollte uns allen eines klar sein: Alle Parteien streben nach Informations-, Führungs- und Wirkungsüberlegenheit. Denn darauf kommt es – in Zukunft – an.
i) Lagebilder und Informationen
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
welche Forderungen ergeben sich nun im Bereich „Lagebilder und Informationen“?
Wer bei Flightradar24 reinschaut, sieht jeden Tag mehrere Aufklärungsflugzeuge westlicher Staaten an der ukrainischen Grenze. Diese sammeln u.a. Daten für Datenbanken.
Im Vergleich mit diesen Datenbanken lassen sich dann auch Veränderungen in der signalerfassenden Aufklärung feststellen, zum Beispiel, ob die Menge an Funkverkehr normal ist.
Ich möchte an dieser Stelle das Augenmerk auf den Weltraum lenken. Satelliteninfrastruktur spielt eine wichtige Rolle. Durch diese können sicherheitsrelevante Entwicklungen großflächig und frühzeitig abgebildet werden. Zum Beispiel konnte der Beginn der russischen Offensive auf Grund von Satellitendaten festgestellt werden.
Russische Truppen, die sich nicht fortbewegen, parken in Quadraten und es gibt Zelte in der Nähe. In der Nacht zum 24. Februar formierten sich die Fahrzeuge um und es wurde deutlich, dass die Invasion beginnt. Man konnte das bei Google Maps sehr gut nachvollziehen, weil sich mitten in der Nacht ein Stau in der Nähe der ukrainischen Grenze bildete.
Folglich benötigen wir als BRD und NATO beste Lagebilder und Informationen: optisch, akustisch und signalerfassend. Hierzu einige konkrete Beispiele:
- Die Georg-Satelliten des BND werden dann elektro-
optische Bilder bereitstellen können - Die SARah-Satelliten werden uns hochauflösende Radarbilder zur Verfügung stellen können.
- Ich bin sehr froh, dass wir im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuss vor Kurzem grünes Licht für drei neue Flottendienstboote gegeben haben. Diese dienen der seegestützten signalerfassenden Aufklärung. Es ist gut, dass wir anders als bei der luftgestützten signalerfassenden Aufklärung also keinen Fähigkeitsabriss beim Wechsel in eine neue Generation verkraften müssen.
ii) Kommunikation und Führung
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
nun möchte ich über Kommunikations- und Führungsfähigkeiten sprechen.
Helmuth von Moltke brachte es auf den Punkt: „Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“ Moltke argumentierte, dass alles, was zu planen sei, auch zu planen ist. Allerdings müssen konstant Anpassungen vorgenommen werden.
Aber diese Anpassungen, Änderungen, neue Informationen, neue Lagen, neue Befehle müssen kommuniziert werden können, und zwar in alle erforderlichen Richtungen, sicher, verlässlich und schnell.
Im Sondervermögen Bundeswehr sind über 20 Mrd. Euro für Führungsfähigkeit/Digitalisierung vorgesehen. Da geht es um bessere Server, besserer Satellitenkommunikation, bessere Gefechtsstände und bessere Funkgeräte. Es ist gut, dass der gesamte Block der Führungsfähigkeit im Sondervermögen enthalten ist. Denn jedes dieser Bausteine ist notwendig, um insgesamt die Kommunikations- und Führungsfähigkeit gewährleisten zu können. Nimmt man nur einen Baustein heraus, funktioniert das gesamte Netz nicht.
Ich möchte an dieser Stelle noch zwei Aspekte ansprechen: Multi-Domain-Operations und KI.
MDO
Bei Multi-Domain-Operations gilt es, die Plattformen und Mittel aller Dimensionen zusammenzuschalten, in Echtzeit:
Flugzeuge, Panzer, Schiffe, usw.. Wenn ein Ziel z.B. von einer Landeinheit identifiziert wird, aber z.B. am besten von See oder Luft aus bekämpft werden kann, dann gilt es das zu tun. Dafür müssen die Plattformen alle in eine Cloud integriert sein und ihre Daten austauschen können. Die Datenmengen und damit auch der Bedarf an Servern und Datenlinks wird gewaltig sein. Aber nur so können die Informationen optimal genutzt und kommuniziert werden. Nur so kann aus Informationsüberlegenheit, Führungsüberlegenheit und schließlich Wirkungsüberlegenheit werden.
KI
Die Datenmengen sind so gewaltig, dass sie von Menschen allein nicht mehr bearbeitet werden können. Schon jetzt unterstützt KI bei der Entscheidungsfindung. Allerdings kann KI nur dann eine sinnvolle Unterstützung sein, wenn genug gute Daten zur Verfügung stehen. Ein zweiter limitierender Faktor liegt in der Funktionsweise von KI selbst. KI schlägt Lösungen für Probleme und Aufgaben im Rahmen von Wahrscheinlichkeiten vor. Das funktioniert sehr gut, wenn ich meinen Wocheneinkauf plane: Mein Supermarkt ist bekannt, ich habe keinen Zeitdruck und alle Lebensmittel stehen mehr oder weniger verlässlich zur Verfügung. Im Gefecht sieht das allerdings anders aus, wir erinnern uns an die Worte von Helmuth von Moltke. Jeder Konflikt und jedes Gefecht sind einzigartig. Gleichzeitig müssen wir uns auf KI verlassen, weil wir sonst nicht schnell genug sind.
Als Beispiel können wir uns einen Vorfall aus dem Irakkrieg vor circa 20 Jahren ansehen. Eine US Patriot-Rakete hatte damals einen britischen Tornado abgeschossen. Ein Grund war die fehlende Freund-Feind-Erkennung des Tornados.
Ein weiterer Grund: die Batterie wurde aufgestellt, als mit heftigem gegnerischen Feuer gerechnet wurde. Die KI der Patriot-Batterie lernte also mit Daten im Kontext der Verteidigung. Die Feuergeschwindigkeit der Patriots musste also entsprechend hoch sein. Die US Air Force etablierte im Irak allerdings sehr schnell Lufthoheit und somit konnte die Patriot-Batterie nicht immer unterscheiden, welches System in der Luft zu welcher Partei gehört. In Verbindung mit der fehlenden Freund-Feind-Kennung, kam es zum friendly fire.
Die Abläufe der KI und der dann ausgelösten Handlungen führten letztendlich zum Abschuss. Die Schritte wurden so schnell durchgeführt, dass es für die Menschen am Gerät nicht mehr möglich war, einzugreifen.
Das US-Militär hat im Nachgang die Patriot-Systeme so angepasst, dass die Operatoren wieder eine stärkere Rolle in der Entscheidungsfindung spielen. Der Man in the Loop wurde wieder stärker eingebunden. Eine weitere Schlussfolgerung dieses Vorfalls war, dass man sich mehr über die Grenzen der eingesetzten KI und mögliche Fehler Gedanken machte.
Die Herausforderung ist sicherlich, dass Codes und Datenbasen, die komplexer Software zu Grunde liegen, für Nutzer unsichtbar sind. Wir sehen die Hardware und den Output der Software. Wie dieser Output zustande kommt, ist nicht leicht nachvollziehbar. Im Gefecht, unter hohem Druck, ist diese Fehleranalyse erschwert.
So wertvoll Digitalisierung für die Effizienz- und Geschwindigkeitssteigerung ist, so wichtig ist es, Vorschläge der KI auf Plausibilität zu überprüfen. Dafür bedarf es geschulten und trainierten Personals, Train as you fight.
Aus der Tendenz hin zu Multi-Domain-Operations und den zunehmenden Einsatzmöglichkeiten von KI ergeben sich Herausforderungen für die Kommunikations- und Führungsfähigkeit: Die Bereitschaft, KI zur Unterstützung einzusetzen, und die Erforderlichkeit von Interoperabilität.
KI als Unterstützung
Die Generäle des US-Militärs David Goldfein und Jay Raymond haben 2020 sehr deutlich festgehalten: „Daten sind die Grundwährung der zukünftigen Kriegsführung. Die Streitkraft, die in der Lage ist, Daten schneller zu sammeln, zu verarbeiten und zu teilen, wird einen Riesenvorteil haben.“
Die Ukraine zeigt genau das. Je weiter die Entscheidungshoheit in die einzelnen Truppenteile verlagert ist, desto schneller und effektiver können russische Ziele getroffen werden.
Es stellt sich allerdings die Herausforderung, weiterhin koordiniert vorzugehen. Deshalb ist es beeindruckend, wie niedrigschwellig die Kommunikation der einzelnen Einheiten mit der Gefechtsführung abläuft.
Mit der App Gis Arta werden Aufträge für Artillerietrupps verteilt, ähnlich wie bei Taxifahrten. Das Ziel wird über Drohnen und Sensoren identifiziert und geortet. Diese Informationen werden in den sensorführenden Systemen verarbeitet und die notwendigen Informationen in die App eingespeist. Ukrainische Artillerietrupps nehmen in dieser App ihren Auftrag entgegen. Die Zeit zwischen Aufklärung und Feuer kann so bis auf 30 Sekunden (!!) reduziert werden. Das Besondere: Diese App funktioniert auf herkömmlichen Telefonen und Tablets.
Gis Arta beschleunigt die Wirkungskette auf Kosten der menschlichen Kontrolle. Das ist notwendig, weil dies die einzige Chance der Ukraine ist, gegen die zahlenmäßig überlegenen russische Streitkräfte zu bestehen. Auch im Kontext autonomer Waffen müssen wir uns als Bundesrepublik grundsätzlich Gedanken machen, wie viel Kontrolle wir bereit sind abzugeben.
General Vetter hat in seinem Beitrag mit dem Beispiel MITA dargestellt, wie ein Software-Update den Kampfwert steigern kann und gleichzeitig human-in-the-loop erhalten kann. Ich finde diese Projekte gut. Ich glaube aber, dass auf dem Weg dahin in vielen Köpfen noch eine Barriere überwunden werden muss.
Interoperabilität
Eine weitere Herausforderung, die sich aus der Kriegsführung der Ukraine ergibt, ist die Interoperabilität. Es ist kein Geheimnis, dass die verschiedenen Waffensysteme der ukrainischen Partnerländer ein großes Problem für die Logistik darstellen. Jeder Hersteller ist darauf bedacht, eigene Software und Geräte zu verbauen, ohne darauf zu achten, ob diese mit anderen Systemen kompatibel sind.
So müssen aufwändig IT-Schnittstellen gebaut werden, die Interoperabilität erst ermöglichen. Das Beharren auf Insellösungen, also pro Waffensystem eine IT-Umgebung, wird zukünftig nicht mehr funktionieren. Deutsche Eurofighter müssen beispielsweise auch mit US-amerikanischen Abrams Kampfpanzern oder französischen Zerstörern Daten tauschen können. Zugespitzt könnte man formulieren, die Fähigkeiten der NATO-Streitkräfte hängen am seidenen Faden der IT- Schnittstellen.
iii) Verwaltung
Gestatten Sie mir einen kurzen Exkurs in die Verwaltung unserer Bundeswehr. Unsere Bundeswehr steht – wie viele Bereiche unserer Gesellschaft – vor einem Fachkräftemangel.
Je mehr unsere Soldatinnen und Soldaten mit Aktenarbeit befasst sind, desto weniger Soldatinnen und Soldaten bzw. desto weniger Zeit stehen für Übung und Ausbildung zur Verfügung. Vor diesem Problem steht nicht nur unserer Bundeswehr. KI, digitale Prozesse und ein schneller Informationsaustausch müssen in die deutschen Amtsstuben Einzug halten.
Schluss
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
welche Forderungen an die Digitalisierung der Streitkräfte ergeben sich also aus dem Lichte der aktuellen Konflikte?
- Wir müssen uns und unsere Verbündeten verteidigen wollen.
- Wir brauchen hervorragende Informationen und Lagebilder.
- Wir brauchen eine hervorragende Kommunikations- und Führungsfähigkeit.
- Wir müssen Multi-Domain-Operations führen können.
- Wir müssen KI noch stärker zur Unterstützung einsetzen.
- Wir brauchen mit unseren Verbündeten interoperable Systeme.
- Wenn Priorisierungen vorgenommen werden, dann gilt es unsere Fähigkeiten im Cyber- und Informationsraum grundsätzlich die erste Priorität zu zuweisen. Denn ohne Lagebilder und ohne Führungsfähigkeit ist beispielsweise der Gefechtswert eines Kampfpanzers stark eingeschränkt. So bezeichnete Verteidigungsminister Pistorius das CIR vergangene Woche richtigerweise als „unverzichtbare, existenzielle Grundlage der Arbeit aller Teilstreitkräfte.“
- Der Inspekteur des Cyber- und Informationsraums der Bundeswehr, Vizeadmiral Thomas Daum drücke es vergangene Woche ebenfalls zutreffend aus: „Wir müssen [unsere] Fähigkeiten modernisieren.“ Ich füge hinzu: Wir müssen unsere Fähigkeiten immer und immer wieder modernisieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.