2023-02-24 Interview zum ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine

Anlässlich des ersten Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine hat mir das Hohenloher Tagblatt die folgenden Fragen gestellt:

Herr Leiser, vor genau einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen. Hat Deutschland seitdem genug für die Unterstützung des angegriffenen Landes getan?

Die deutsche Unterstützung für die Ukraine fußt auf vier Prinzipien: Wir werden keine Kriegspartei. Wir unternehmen keinen Alleingang. Wir müssen unsere eigene Verteidigungsfähigkeit erhalten. Was auch immer wir tun muss Russland mehr schaden als uns selbst. Faktisch unterstützt Deutschland die Ukraine wie kaum ein anderes Land. Das gilt für militärische, finanzielle und humanitäre Unterstützung. Anders als andere Staaten halten wir unsere Versprechen ein. Anders als andere Staaten stellen wir bei der militärischen Unterstützung stehts ein Komplettpaket aus Gerät, Munition, Ersatzteilen, Wartung und Ausbildung bereit. Der ukrainische Botschafter Oleksij Makejew und Wladimir Klitschko haben sich in Munster jüngst bei einem gemeinsam Besuch der Ausbildung ukrainischer Soldatinnen und Soldaten mit Verteidigungsminister Pistorius für die deutsche Unterstützung bedankt.

Bundeskanzler Scholz wurde im Laufe des Jahres – etwa als es um die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern ging – immer wieder Zögerlichkeit vorgeworfen, nicht nur von der CDU, sondern auch von Verbündeten wie Polen oder den baltischen Staaten. Können Sie die Ungeduld, die aus solcher Kritik spricht, nachvollziehen?

Ich bin sehr froh, dass wir mit Olaf Scholz einen besonnenen Bundeskanzler haben. Die Entscheidungen zur Lieferung von Waffensystemen war stets international abgestimmt. Olaf Scholz ist es gelungen, auch die USA zur Lieferung von Kampfpanzern zu bewegen. Wenn jemand bei Fragen von Krieg und Frieden vorprescht, so riskiert er, am Ende allein dazustehen. Tschechien hat erklärt, die Leopard 2 aus dem Ringtausch nicht an die Ukraine weitergeben zu wollen. Frankreich hat bislang nicht erklärt, selbst Kampfpanzer zu liefern. Friedrich Merz von der CDU hat bereits im März 2022 laut über einen Kriegseintritt spekuliert und die Nerven verloren.

Ganz konkret: Kam die Zusage der Panzerlieferungen zu spät, um die Ukraine vor einer befürchteten russischen Frühjahrsoffensive zu schützen?

Es ist zweifelhaft, ob die russische Frühjahrsoffensive überhaupt durchhaltefähig anläuft. Die Ausbildung an den Schützenpanzern Marder und Kampfpanzern Leopard ist in Rekordtempo angelaufen.

Sie waren beim Ausbruch des Angriffskriegs ein Neuling in Berlin und in der Verteidigungspolitik – geben Sie uns doch mal einen kleinen Einblick: Was haben Sie getan, um möglichst schnell tief im Thema zu sein?

Die Wochen nach dem 24. Februar waren richtig knackig. Für mich war klar: Wenn ich etwas nicht weiß, dann sage ich das auch. Und ich habe versucht, mich auf die Big Points zu fokussieren: Wie ist die Lage? Was könnte die Strategie sein? Wie könnte das weitergehen? Mein Standardvorgehen ist: Neus ordnen, strukturieren, priorisieren. Als Mathematiker zerlege ich Probleme am liebsten in Teilprobleme. Dazu kommen viele Gespräche. Besuche bei der Truppe vor Ort sind besonders wertvoll. Mittlerweile fühle ich mich angekommen. Dieses Jahr werde ich außerdem eine Reserveausbildung bei unserer Bundeswehr absolvieren.

Welcher Moment im vergangenen Jahr war für Sie besonders intensiv?

Für den 24. Februar war eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses in Berlin angesetzt. Die CIA hatte schließlich erklärt, ein baldiger russischer Angriff stünde bevor. Als ich dann in der Früh auf mein Handy geschaut habe, dachte ich nur: Nicht dein Ernst, jetzt geht es los. Ich hab gleich mit meinen Mintarbeitern Kontakt aufgenommen. Es war eine andere Welt.

Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben zuletzt ein „Manifest für den Frieden“ initiiert. Wie stehen Sie zu der Initiative?

Die Initiative ist zynisch, realitätsfremd und verbreitet russische Propaganda. Diese Initiative findet allerdings breite Unterstützung innerhalb der Linkspartei. Es scheint, als seien 4,9% und drei Direktmandate, 4,9% und drei Direktmandate zu viel gewesen.

Haben Sie Verständnis dafür, dass Menschen Angst vor einer Ausweitung des Krieges haben?

Ja.

Haben Sie selbst Angst?

Ich habe Respekt vor den gegenwärtigen Fragestellungen und Entscheidungen. Zum einen eskalierte 1914 das Attentat von Sarajevo binnen weniger Wochen zum ersten Weltkrieg mit etwa 17 Millionen Toten. Zum anderen müssen wir uns in Deutschland die reale sicherheitspolitische Lage vergegenwärtigen. Wir sind selbst keine Kriegspartei. Aber unter anderem Russland bedroht uns mit hybriden Angriffen wie Desinformation, Spionage, Sabotage oder Cyberangriffen.

Kanzler Scholz sagt, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren. Verteidigungsminister Pistorius sagt, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen. Was ist der Unterschied, und mit wem halten Sie’s?

Ist das nicht dasselbe? Wichtig ist, dass wir die Ukraine so lange unterstützen wie sie unsere Unterstützung benötigt. Darin sind sich Scholz, Pistorius und auch US-Präsident Joe Biden einig.

Ein Jahr nach dem Kriegsausbruch ist auch ein knappes Jahr nach der angekündigten „Zeitenwende“. Man hat nicht das Gefühl, dass die Bundeswehr bereits wieder in einem guten Zustand ist. Wie lange wird das dauern?

Bereits 2011 hat die SPD die CDU davor gewarnt, die Bundeswehr kaputtzusparen. In den vergangenen Monaten konnten wir nun Meilensteine zur Stärkung unserer Sicherheit verzeichnen: Die Soldatinnen und Soldaten erhalten – endlich – eine Vollausstattung unter anderem an Schutzwesten. Die seit Jahren überfällige Entscheidung zur Tornado-Nachfolge ist getroffen, wir kaufen die F-35. Die Beschaffung haben wir verbessert. Es werden weitere Schritte folgen. Insgesamt wird es mehrere Jahre dauern, bis unsere Bundeswehr den Stand hat, den sie haben sollte.

Und: Wie viel Geld ist dafür nötig? Sicherlich viel mehr als die 100 Milliarden Sondervermögen, oder?

Wir müssen dauerhaft mindestens zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben. Das haben wir – trotz Zusicherung an unsere NATO-Partner – versäumt. Es fehlen 20 bis 30 Milliarden Euro für Munition und circa 50 Milliarden Euro für Infrastruktur. Wenn mehr Flugzeuge fliegen, mehr Schiffe in See stechen und mehr Panzer üben, dann werden auch die Wartungs- und Betriebskosten steigen. Die Abgaben an die Ukraine müssen nachbeschafft werden. Hinzu kommen zukünftige Herausforderungen im Cyber- und Weltraum. Unsere Bundeswehr ist Teil der Daseinsvorsorge und gehört in die Mitte unserer Gesellschaft.

Herr Leiser, wenn wir in einem Jahr wieder miteinander sprechen, wie hat sich dann die Lage in der Ukraine entwickelt? Was glauben und was hoffen Sie?

Ich hoffe, dass der Krieg schnell endet. Aber Kriege können lange andauern und sich dynamisch ändern. Nordkorea und Südkorea haben beispielsweise noch immer keinen Friedensvertrag geschlossen. Jedenfalls bin ich froh, dass nicht Kaiser Wilhelm II. Deutschland regiert, sondern Bundeskanzler Olaf Scholz.